Viele Menschen betrachten Kreativität als eine geheimnisvolle Gabe, mit der einige gesegnet sind und andere eben nicht. Mit seinem Domäne-Feld-Individuum-Modell entmystifiziert der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi diese Vorstellung entschieden. Er beschreibt die Wesensmerkmale kreativer Personen, deren kreativen Prozess und Kreativität als System. Und genau das schauen wir uns in diesem Artikel etwas genauer an.
Florenz: Eine rein zufällige Ansammlung kreativer Genies?
Betrachtet man Florenz um das Jahr 1400, so stellt man fest, dass die toskanische Großstadt viele großartige Künstler wie Donatello, Sandro Botticelli, Ghirlandaio, oder Leonardo da Vinci hervorgebracht hat. Einige weltberühmte Meisterwerke wie Brunelleschis Dom von Florenz oder Ghibertis Bronzetüren wurden dort erschaffen. Aber mit der Annahme, dass Kreativität eine Charaktereigenschaft einiger weniger Menschen ist, lässt sich die exorbitante Schaffenskraft im Florenz des 14. und 15. Jahrhunderts kaum erklären. Was hat also dazu beigetragen, dass in Florenz zu dieser Zeit so viel kreatives Schaffen herrschte?
Florenz bot den Künstlern in dieser Zeit perfekte Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Kreativen ließen sich von den vergessenen, römisch-antiken Methoden der Architektur, Bildhauerei und Malerei inspirieren, ferner förderte die Stadt selbst kreative Berufe durchaus großzügig. Die italienische Stadt zeigt also, dass produktive Kreativität mehr als ein Talent benötigt. Lasst uns einen Blick darauf werfen, welche Faktoren nach Csíkszentmihályi für kreative Schaffensprozesse wichtig sind.
Domäne, Feld und Individuum – so entsteht Kreativität
Das Beispiel Florenz identifiziert drei Bereiche nach Mihály Csíkszentmihályi, die für das Entstehen von Kreativität maßgeblich sind: die Domäne, das Feld und das Individuum. Die Domäne beschreibt einen Bereich, in dem Kreativität auftauchen kann, z. B. Mathematik, Musik oder bildende Kunst. Das Feld wiederum besteht aus all jenen Experten, die in der Domäne aktiv sind. Sie sind sozusagen die Torwächter ihres Metiers und entscheiden darüber, wen sie in ihre Reihen aufnehmen, welche Werke anerkannt werden und in welche Richtung sich die Domäne zukünftig weiterentwickeln wird (eher progressiv oder eher konservativ?).
So besteht das Feld der Malerei zum Beispiel aus Kunstlehrern, den Kuratoren der Museen, den Besitzern der Galerien und den Kunstsammlern. Das kreative Individuum ist schließlich der Kreative selbst, der innerhalb der Domäne mit dem Feld kooperiert.
Das Feld spielt nicht nur für die Entstehung der Kreativität eine wichtige Rolle, sondern auch für die Anerkennung derselbigen. Denn Kreativität wird erst durch Dritte, also das Kollektiv, legitimiert. Sehen wir uns beispielsweise Berlin, London oder New York an – diese Städte sind für Musiker heute das, was Florenz vor einigen hundert Jahren für schaffende Künstler war. Und das Silicon Valley in Kalifornien ist die Quelle vieler technologischer Errungenschaften, geprägt durch ein Feld aus Investoren, Nerds, Bastler, Programmierern und Theoretikern.
Mihály Csíkszentmihályi unterscheidet zwischen zwei Ausgangspunkten für das Entstehen neuer Ideen. Dafür nennt er einerseits persönliche Erfahrungen und andererseits die Domäne und ihr Feld. Es gibt zum Beispiel Künstler, denen ihr eigenes Leben als Quelle für Inspiration völlig ausreicht. Sie verarbeiten Eindrücke, Gefühle oder bestimmte Ereignisse in allen ihren Werken. Jedoch bietet auch die Domäne mindestens ebenso viel Inspiration, da in praktisch jedem Fachbereich darüber nachgedacht wird, welche innovativen Entwicklungen das Feld in Zukunft voranbringen werden. Aber neben einem anregenden Feld voll kreativem Input ist noch etwas anderes maßgeblich wichtig für die Kreativität: die Ruhe.
Kreativität: Ruhe und Rückzug
Dem regen Austausch mit anderen Menschen steht bei kreativen Persönlichkeiten oft ein Bedürfnis nach ausgiebiger Ruhe entgegen. So manch Kreativer zieht sich dafür in die Natur zurück. So schrieben beispielsweise antike chinesische Dichter ihre Verse in zierlichen Pavillons auf kleinen Inseln, die Hindu-Gelehrten zog es in den Wald und auch die christlichen Mönche suchten sich zur Ruhe und inneren Einkehr friedliche Orte in der Natur.
Für manche Künstler ist die vertraute Umgebung der ideale Ort, um schöpferisch tätig zu werden. So entfernte sich Johann Sebastian Bach nie weit von seiner Heimat in Thüringen und Richard Wetz war nach eigener Aussage beim Komponieren auf eine vertraute Umgebung angewiesen.
Es sieht also so aus, als wäre die Kombination aus anregender Gesellschaft und einem Ort des Rückzugs einer der Schlüssel zur Kreativität. Aber neben den extrinsischen Faktoren, gibt es auch intrinsische Faktoren, die zur kreativen Tätigkeit beitragen.
Was macht einen kreativen Menschen aus?
Neben der Domäne und dem Feld gibt es auch verschiedene Charaktereigenschaften und Überzeugungen, die wir bei vielen Künstlern beobachten können: Obwohl Talent häufig überschätzt wird verhilft es einigen Menschen zu einem gewissen Startvorteil bei ihrer kreativen Arbeit. Talentiert zu sein, ist nicht zwangsläufig eine Garantie für großartige kreative Prozesse. Talent kann aber durchaus einen gewissen Startvorteil für kreative Arbeiten liefern.
Ein natürliches Gespür für die Kombination von Formen und Farben – also ein angeborenes Talent – ist möglicherweise ein Startvorteil für die kreative Arbeit. Vor allem im Vergleich mit all denjenigen, die nicht mit einem angeborenen Talent in diesem Bereich gesegnet sind und sich die entsprechenden Fähigkeiten erarbeiten müssen. Es ist allerdings schwierig, die Bedeutung des Talents genau zu bemessen. Denn sobald wir geboren werden, wird dieses Talent von vielen sozialen Einflüssen beeinflusst. Eine entsprechende Förderung durch Eltern und/oder das soziale Umfeld ist ungemein hilfreich, um Talente zu vertiefen. Dennoch gibt es genügend Beispiele dafür, dass man kein Wunderkind sein muss, um später in einem kreativen Beruf erfolgreich zu sein.
Ein weiteres Merkmal vieler kreativer Menschen…
ist eine vielschichtige und lebendige Gefühlswelt, mit sich teilweise auf den ersten Blick widersprechenden Charaktereigenschaften. So war Wolfgang Amadeus Mozart zweifelsfrei ein musikalisches Genie – aber gleichzeitig auch eine alberne und in Teilen beinahe disziplinlose Person. Weitere Beispiele wären Amy Winehouse, Friedrich Nietzsche, oder Paul Klee, bei denen wir ein buntes Repertoire an Charaktereigenschaften in verschiedenste Richtungen sehen können.
Viele kreative Menschen besitzen eine gute Balance aus Extraversion und Introversion. Einerseits brauchen sie andere, um Inspiration zu erhalten und sich auszutauschen. Doch gleichzeitig sind sie auch dazu in der Lage, sich zurückzuziehen und ganz alleine in absoluter Stille zu leben (und zu arbeiten).
Kreativität braucht Freiheit
Meine Erfahrung deckt sich mit den Recherchen Csíkszentmihályis: Für viele Kreative stellt die Zeit nach der Schule, in der sie sich endlich ganz ihren Interessen widmen können, einen der Höhepunkte ihres Lebens dar. Im Rahmen seiner Forschungsarbeit fand Csíkszentmihályi heraus, dass viele Künstler den Wechsel von Schule/ländlicher Umgebung zu Studium-Ausbildung/selbst ausgewählter Umgebung durchaus zu schätzen wussten.
Ausbildung und Studium fanden zumeist in einer anregenden Atmosphäre statt: In den Hörsälen ließen die Künstler sich von ihren Professoren und Kommilitonen inspirieren und fanden unter ihnen manchmal Seelenverwandte. Endlich bekamen die Künstler die Anerkennung, die ihnen in der Schule häufig versagt geblieben war. Der Schriftsteller Anthony Hecht gab zum Beispiel an, dass er sich in der Schule für Mathematik und Musik interessierte. Erst während des Studiums wurde seine Liebe zur Literatur geweckt – und er wurde zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller der USA.
Dazu meine Beobachtung: Wer an der Uni die besten Noten schreibt und herausragende Leistungen bringt, macht danach meistens Karriere – doch das trifft für Kreative nur selten zu. Anstatt sich den Lebensläufen ihrer Kommilitonen anzupassen und den, für sie vorgesehenen Weg einzuschlagen, finden sie lieber ihre eigene Berufung im Leben (so ist es mir übrigens auch gegangen).
Kreativität altert nicht
Abschließend stelle ich Folgendes fest: Die meisten Menschen betrachten das Altern mit Angst. Sie stellen sich vor, wie es ist, nach und nach immer langweiliger zu werden, mental und körperlich abzubauen und schließlich irgendwann zu sterben. Die überwiegende Mehrzahl der Kreativen sieht das meiner Erfahrung nach ganz anders: Sie genießen es, älter zu werden, und können es kaum erwarten, noch mehr Erfahrungen zu sammeln, um noch besser in ihrem Handwerk zu werden.
Mittlerweile ist auch wissenschaftlich widerlegt, dass die Kreativität mit dem Alter abnimmt. Sowohl die Qualität als auch die Quantität kreativer Arbeit bleibt bis ins höchste Alter erhalten. Vielleicht liegt das auch daran, dass den Kreativen auch im Alter nie die Ziele ausgehen. Sie haben immer ein packendes Projekt oder ein kniffliges Problem, in das sie sich mit ganzem Herzen hineinstürzen. Kreativen Menschen geht die Begeisterung für ihre Domäne ihr Leben lang nicht verloren.
Kreativität entmystifiziert, oder?
Fest steht: Bis jetzt gibt es keine praxisnahe Anleitung, um Kreativität in Gang zu setzen. Ebenso gibt es keine verbindlichen Antworten auf die Fragen: Was ist kreativ? Wer ist kreativ, die fleißigen Arbeiter oder der unkonventionelle Individualist? Ist Kreativität ein Prozess oder ist es das Produkt? Was sind Kennzeichen von Kreativität? Und abschließend: Welchen Wert hat Kreativität für die Menschheit?
Ein bisschen näher sind wir der Antwort dann aber doch gekommen. Mihály Csíkszentmihályi beschreibt für uns ganz klar, dass angeborenes Talent die Grundlage für eine künstlerische Karriere sein kann (aber nicht unbedingt sein muss). Viel wichtiger ist es, dass Talent erkannt und ausreichend gefördert wird. Außerdem spielt die Umwelt und vorgegebene Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle, wenn es um kreative Arbeit geht. Das haben wir an dem Beispiel des Künstler-Hotspots Florenz ausmachen können.
Kreativität ist also keine geheimnisvolle Gabe, die der eine hat und der andere nicht. Das Domäne-Feld-Individuum-Modell verdeutlicht, dass intrinsische Kreativität nur ein Teil des Puzzles ist, und jeder kreative Prozess auch ein äußeres Feld braucht. Somit ist Kreativität das Ergebnis einer Kombination aus persönlicher Veranlagung und Umgebung, die erst im komplexen Zusammenspiel mit äußeren Rahmenbedingungen richtig zum Tragen kommt. Letztlich ist Kreativität ein multidimensionales Konzept, zu dem viele Faktoren beitragen können.
Jetzt bist du dran. Was denkst du: Ist Kreativität eine Grundvoraussetzung, um als Musiker erfolgreich zu sein? Kann das Domäne-Feld-Individuum-Modell auch auf die Musikindustrie übertragen werden? Lasse es mich in den Kommentaren wissen.