Musiker wie David Byrne, Ginger Baker oder Paul Simon begannen schon früh damit, ihrer Musik außereuropäische Stilelemente hinzuzufügen. Und zwar lange, bevor der Begriff “Kulturelle Aneignung” überhaupt erdacht worden ist. So gründete Peter Gabriel beispielsweise 1982 das Festival World of Music Arts and Dance und parallel dazu das Label Real World Records. Bei beiden Projekten ging es sowohl um die Produktion als auch um die Vermarktung außereuropäischer Musik.
Haben wir es hier bereits mit „Kulturimperialismus“ zu tun? Wie „bunt“ darf Musik sein und wer darf welche Traditionen nutzen? Hier erfährst du, wie ich darüber denke.
“Kulturelle Aneignung” – ein sperriger Begriff
Schon zur damaligen Zeit wurden die Bestrebungen der oben genannten Künstler von Musikethnologinnen und Musikjournalisten kritisch hinterfragt. Die Kritiker standen dem Gebrauch nicht westlicher Musikformen von westlichen Künstlern aus kommerziellen wie auch aus musikästhetischen Gründen nicht zwangsläufig offen gegenüber. Beispielsweise wurde Paul Simon und Peter Gabriel “Kulturimperialismus” vorgeworfen. Dieser “Kulturimperialismus” opfere aus rein egoistischen Motiven jegliche kulturelle Ästhetik einer profitorientierten Unterhaltungsindustrie.
Neuerdings werden Künstler in zunehmendem Umfang mit einer anderen, aber nicht weniger schwerwiegenden Anschuldigung konfrontiert. Die aktuelle Kritik trägt den etwas sperrigen Namen “kulturelle Aneignung“. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob sich weiße Musikerinnen und Musiker der Kultur von unterdrückten Gruppen jedweder Art bedienen dürfen. So wird beispielsweise der US-amerikanischen Singer-Songwriterin Billie Eilish vorgeworfen, mit “schwarzem“ Akzent zu singen.
Eine andere Debatte dreht sich um Dreadlocks und die Frage, ob Menschen mit weißer Hautfarbe überhaupt Dreadlocks tragen dürfen oder ob sie sich dadurch dem Vergehen der “kulturellen Aneignung“ schuldig machen. Am 18. Juli 2022 war die Schweizer Reggae-Pop-Indie-World-Music-Band Lauwarm dazu gezwungen worden, ein Konzert in Bern abzubrechen. Offenbar fühlten sich einige Leute im Publikum wegen der Frisuren (Dreadlocks) und des Kleidungsstils der weißen Musiker unwohl. Kurz darauf entschuldigte sich der Veranstalter öffentlich für die Sensibilisierungslücken und wies darauf hin, dass man das Publikum vor solch “kultureller Aneignung“ hätte schützen müssen.
Selbstdarstellung statt Kunst: Gefahren für die Kunst- und Kulturfreiheit
Es sind genau Entscheidungen und Gedanken dieser Art, die dazu führen, dass ich die Kunst- und Kulturfreiheit in Gefahr sehe. Denn diese für die Kunst so wichtige Freiheit wird durch ethische und moralische Gesichtspunkte relativiert. Seit dem Hashtag #MeToo wird zu Recht das Machtgefälle zwischen männlichen Regisseuren und Schauspielerinnen kritisch hinterfragt. Daneben sollen bildende Künstler aber in Zukunft die CO₂-Bilanz ihrer Installationen überdenken. Und im Filmgeschäft wird seit geraumer Zeit darüber diskutiert, ob Heterosexuelle weiterhin Homosexuelle und ob Nicht-Transvestiten Transvestiten spielen dürfen.
Durch diese Herangehensweise treten plötzlich Aspekte wie extreme Machtgefälle, Ausbeutung, Gleichberechtigung und Klimaschutz in den Fokus der Betrachter und führen im schlimmsten Fall dazu, dass die Brisanz und Wichtigkeit eines Kunstwerks nur noch an diesen Parametern gemessen wird. Entscheidend wird in einem solchen Kontext nicht mehr nur die konkrete Autorschaft sein, sondern auch die Zugehörigkeit zu jener unterdrückten Gruppe, aus der bestimmte (kulturelle) Elemente hervorgegangen sind.
Damit wird der imaginäre Raum, in dem sich Kunst bisher abgespielt hat, mit dem realen Raum deckungsgleich. Eine solche Entwicklung kann, aus meiner Sicht, nicht im Interesse der einzelnen Künstler (-kollektive) sein. Denn würde man eine solche Prämisse zugrunde legen, dann dürften ausschließlich homosexuelle Schauspieler homosexuelle Figuren spielen. Somit wäre Schauspielerei obsolet, da es nur noch um eine reine Selbstdarstellung ginge. Dürften Schriftsteller und Autorinnen nicht mehr über andere Lebenswelten schreiben, bliebe nur noch die Autobiografie.
Deshalb will ich im Folgenden auf das Konzept der Enttraditionalisierung eingehen. Darauf aufbauend versuche ich zu erklären, warum es meiner Meinung nach sinnvoll ist, den Begriff und das Konzept der “kulturellen Aneignung“ noch einmal kritisch zu hinterfragen.
Enttraditionalisierung und erfundene Tradition
Im Jahr 1983 stellte der britische Historiker Eric Hobsbawm das Konzept der “erfundenen Tradition“ vor, das seinerseits wiederum die Grundlage für den Prozess der Enttraditionalisierung bildet. Dazu sagte er: „Unter ‚erfundener Tradition‘ versteht man eine Reihe von Praktiken, die in der Regel auf offen oder stillschweigend akzeptierten Regeln beruhen und ritueller oder symbolischer Natur sind und die darauf abzielen, bestimmte Werte und Verhaltensnormen durch Wiederholung zu verinnerlichen, was automatisch eine Kontinuität mit der Vergangenheit impliziert. Wenn möglich, versuchen sie sogar, eine Kontinuität mit einer geeigneten historischen Vergangenheit herzustellen.“
Der britische Soziologe Anthony Giddens, der den Prozess der Enttraditionalisierung zum ersten Mal beschreibt, führt das Konzept von Eric Hobsbawm mit den weltweiten Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung zusammen. Hierfür greift er den Gedanken der erfundenen Tradition auf und spitzt diesen weiter zu, indem er behauptet, dass Traditionen bei der Weitergabe an die nächste Generation ihre Grundlage verlieren und deswegen verschwinden.
Der Prozess der Enttraditionalisierung hat nach Giddens seinen Ursprung in der Globalisierung, die er als den “wirtschaftlichen Aufstieg des Westens“ bezeichnet: „Die erste Phase der Globalisierung war bestimmt vor allem von der Expansion des Westens und von Institutionen, die im Westen ihren Ursprung hatten. Keine andere Zivilisation hat jemals zuvor in solchem Umfang die gesamte Welt beeinflusst und sie so nach ihrem Bilde geformt. Doch die Zerstörung traditioneller Lebensweisen durch abstrakte Systeme […] verläuft notwendig dezentral, weil sie die für jede Tradition charakteristische organische Verbindung mit bestimmten Orten durchschneidet.“
Traditionen im Wandel: Die Globalisierung als Initiator
Das Resultat dieses Vorgangs ist die „posttraditionale Gesellschaft als erste globale Gesellschaft. Bis vor noch gar nicht langer Zeit führte ein großer Teil der Welt noch quasi ein Eigenleben, das in großen Bereichen das Überleben der Tradition ermöglichte. […] In den letzten Jahrzehnten wandelte sich diese Situation radikal – insbesondere unter dem Einfluss einer elektronischen Kommunikation, die alle Punkte auf der Welt zeitgleich miteinander verbindet. In einer Welt, in der niemand mehr ‚außerhalb‘ steht, können Traditionen weder den Kontakt mit anderen Traditionen noch mit einer Vielzahl alternativer Lebensformen verhindern.“
Im Zeitalter einer globalisierten Welt vollzieht sich nun eine grundlegende Veränderung: Traditionen werden nicht mehr erfunden oder weitergegeben, sondern öffentlichen Institutionen und dem Alltagsleben entnommen und re-kontextualisiert. Giddens sagt dazu: „Indem der Einfluss von Tradition und Brauchtum weltweit zurückgeht, verändert sich die Grundlage unserer Selbst-Identität, unseres Verständnisses von uns selbst. In traditioneller Umgebung wird das Selbstgefühl vor allem durch die stabile Position des Individuums in der Gemeinschaft aufrechterhalten. Wo die Tradition fehlt und freie Wahl des Lebensstils vorherrscht, ist das Selbst nicht einfach bloß befreit. Vielmehr muss es hier seine Selbst-Identität auf einer aktiveren Grundlage schaffen und neu schaffen.“
Wenn Traditionen an Schärfe verlieren und jeder Mensch auf einmal die Möglichkeit der völlig freien Entfaltung hat, dann müssen Individuen damit beginnen, ihre Identität und den persönlichen Lebensstil neu zu definieren.
Neue Musik lebt von globalen Einflüssen
Dabei sehen sich die Individuen zusätzlich mit immer neuen Technologien, unterschiedlichen Kulturen sowie global vernetzten Medien- und Kommunikationssystemen konfrontiert. Hierdurch werden bis dahin vorherrschende, regionale Identitäten gewissermaßen aufgelöst, was den Menschen die Möglichkeit bietet, aus der Gesamtheit eines globalen Fundus an Kulturgütern zu schöpfen.
Genau aus diesen Gründen halte ich den Vorwurf der “kulturellen Aneignung“, in Hinblick auf die Weiterentwicklung und Neukontextualisierung von Musik, als völlig unangebracht. Denn nur durch den offenen, unvoreingenommenen interkulturellen Austausch kann Neues entstehen. Es ist wichtig, richtig und notwendig, dass Künstlerinnen und Künstler eine eigene Identität entwickeln. Dabei sollten sie jederzeit und ganz ohne Scham auch auf fremde Kulturen und Traditionen Bezug nehmen können. So kann in diesem Zusammenhang etwas Neues entstehen, das zu einer gesunden Entwicklung der globalen Kulturlandschaft beiträgt.
Fazit: Kunst und Kreativität brauchen kulturelle Vielfalt
Doch was ist das Ergebnis dieser Gedanken? Wünschenswert wäre es doch, wenn Künstler nach individuellem Bedarf und persönlichem Gusto mit verschiedenen (künstlerischen) Identitäten in den öffentlichen Raum treten könnten.
Das ist meiner Meinung nach gelebte Vielfalt, Kunst und ein kulturelles Umfeld, in dem sich die Arbeiten verschiedener Menschen, unterschiedlicher Herkunft und Nationalität gegenseitig positiv beeinflussen. Die Unbefangenheit, sich vorgefundenem, kulturellen Materials zu bedienen, ist wesentlicher Bestandteil von Kreativität überhaupt. Musik dabei vielschichtig, innovativ zu denken und neue Verknüpfungen zuzulassen – und Ausbeutung und Rassismus klar abzulehnen, sind keine Gegensätze. Einen Begriff wie “kulturelle Aneignung“ braucht man dafür mit Sicherheit nicht.
Jetzt bin ich auf deine Meinung gespannt! Welche Bedeutung hat der Begriff „kulturelle Aneignung“ für dich? Bist du als Musikerin oder Musiker mit der Thematik schon einmal konfrontiert gewesen? Lasse es mich in den Kommentaren wissen, ich freue mich auf deine Nachricht!