Weltweit sind Menschen noch immer damit beschäftigt, sich an eine neue Normalität zu gewöhnen – die sich noch vor einem Jahr kaum jemand hätte vorstellen können. Abstandsregeln und Masken, Quarantäne und Lockdown gehören mittlerweile zu unserem Alltag. Zugleich führen uns diese Maßnahmen aber auch schmerzlich vor Augen, wie schön das Leben war, als man sich mit Freunden einfach zum Konzertbesuch verabreden konnte. Sind Live-Streaming und Online-Konzerte im Internet für Bands und Fans eine Lösung?
Live-Konzerte im Internet: Millionen schauen zu
In der letzten Zeit bemerke ich häufiger, dass gerade in Krisenzeiten viele Menschen ein gesteigertes Bedürfnis nach musikalischen Erlebnissen haben. Deutlich wird das an der Popularität von live gestreamten Konzerten und der Bereitschaft der Fans, sich auf neue, innovative Formate einzulassen. So hatte das Streaming-Festival Wacken World Wide geschätzte elf Millionen Zugriffe während seiner Laufzeit vom 29. Juli bis 1. August 2020. Im Battle Royale-Onlinespiel Fortnite sahen schätzungsweise 12,3 Millionen Spieler den Auftritt von Rapper Travis Scott. Kostenlose Live-Auftritte der Doobie Brothers, Billie Eilish oder Jon Bon Jovi haben Millionen von Fans in ihren Bann gezogen.
Tim Burgess, Leadsänger der britischen Indie-Rockband The Charlatans, hatte eine andere Idee, um mit den Fans in Kontakt zu bleiben – er veranstaltet regelmäßig Listening Sessions auf Twitter. Das dahinter stehende Konzept ist denkbar einfach: Jeden Abend steht ein Indie-Album im Fokus, das sich alle Teilnehmer zu einer festen Uhrzeit in voller Länge anhören. Unter dem Hashtag #timstwitterlisteningparty können Zuhörer dann live kommentieren und sich über das Album austauschen.
Neue Chancen für Musiker
Seit dem Rückgang von CD-Verkäufen und Musik-Downloads sind Konzerte für viele Musiker und Bands die wichtigste Einnahmequelle. Es wird dich daher sicher nicht wundern, dass der Live-Musiksektor bis zum März 2020 zu den wenigen, finanziell robusten Bereichen der Unterhaltungsindustrie gehört hat. Umso schwerer sind Musiker deshalb von den Auswirkungen der staatlichen Corona-Verordnungen betroffen, die seit März 2020 jegliche Live-Konzerte verbieten.
Doch so schwer die Zeiten momentan sind – ich bin davon überzeugt, dass auch diese Krise vorübergehen wird und die Musikszene bzw. Veranstaltungsbranche trotz allem optimistisch in die Zukunft blicken kann. Denn Ausnahmesituationen wie diese bieten die Chance, die Bedeutung von Musik wieder stärker in das Bewusstsein der Hörer zu rücken. Ein wichtiger Teil dabei ist das virtuelle Erlebnis eines Konzertbesuchs.
Der Livestream eines Konzerts ist nicht nur eine sichere Option, um in diesen Zeiten Auftritte zu veranstalten und mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, und zwar weltweit. Für Musiker und Bands sind Live-Konzerte im Internet zudem ein sinnvoller Weg, um präsent zu bleiben, neue Songs zu spielen und letztlich auch Geld zu verdienen.
Online-Konzerte: von Spenden zu Tickets
Erste Versuche lassen bereits erahnen, dass in diesem neuen Geschäftsbereich großes Potenzial steckt. Deshalb denke ich, dass das gemeinsame Konzerterlebnis im digitalen Raum vielleicht schon jetzt zu den wichtigen positiven Veränderungen gehört, welche die Corona-Krise ausgelöst hat. Denn zahllose Künstler haben neue Wege gesucht, um ihr Publikum über das Internet zu erreichen. Ob Livestreams dabei eine verlässliche Alternative sein werden, um fehlende Einnahmen von Musikern zu ersetzen, bleibt abzuwarten. Trotzdem haben viele Künstler in den letzten Monaten intensiv daran gearbeitet, ein hochwertiges Livestreaming-Produkt zu entwickeln, bevor sie ihre Fans bitten, dafür zu bezahlen.
Ein gutes Beispiel dafür ist Digital Mirage, das virtuelle Festival für elektronische Musik. Bei der Veranstaltung, die Anfang April 2020 zum ersten Mal stattfand, spielten alle Künstler ohne Gage, um Spenden für verschiedene Live-Locations zu sammeln, die aufgrund der Corona-Verordnungen schließen mussten. Das Festival wurde mit einem veränderten Line-Up Mitte Juni wiederholt und war, ebenso wie im April, ein kostenloser Livestream mit dem Ziel, möglichst viele Spendengelder zu sammeln.
Ich halte es für möglich, dass die Veranstalter planen, das mittlerweile bewährte Konzept in Zukunft kostenpflichtig anzubieten. Das könnte möglicherweise schwierig sein, weil der Markt vorher mit kostenlosem Content beschenkt wurde. Denn wenn uns die Geschichte etwas gelehrt hat, dann ist es die Erkenntnis, dass Verbraucher nur schwer davon zu überzeugen sind, für etwas zu bezahlen, das sie bisher kostenlos bekommen haben.
Live-Konzerte im Internet kostenlos?
Eine der größten Herausforderungen wird es in Zukunft deshalb sein, den richtigen Mittelweg zu finden zwischen dem, was Fans bereit sind zu bezahlen, und dem, was Künstler verlangen müssen, um profitabel arbeiten zu können. Mit Sicherheit kann die Lösung nicht sein, dass Musiker ihren gesamten Content kostenlos zur Verfügung stellen.
Für eine lange Zeit war das ein wichtiger Trend. Trotzdem wird es dadurch nicht richtiger oder sinnvoller. Denn die Bands, die kostenlos live streamen oder Geld für wohltätige Zwecke sammeln, können es sich in der Regel finanziell leisten. Daher haben Sie berechtigterweise das Gefühl, dass es in diesen Zeiten nicht angebracht ist, von den Fans Geld zu verlangen. Zugleich konkurrieren aber all diese Livestreams um die begrenzte Aufmerksamkeit und Zeit der Zuschauer – ein hochkarätiger Künstler, der kostenlose Inhalte anbietet, blockiert damit den Markt für jeden anderen Musiker, der darauf angewiesen ist, Geld zu verdienen.
Monetarisierung von Online-Konzerten
Mit virtuellen Live-Konzerten können Musiker derzeit vor allem auf zwei Wegen Geld verdienen: Die Zuschauer kaufen sich vorher ein Ticket oder das Event ist kostenlos und die Fans haben die Möglichkeit, während der Veranstaltung oder hinterher Geld zu spenden.
So bietet Facebook seit April 2020 Events mit Ticketing-Funktion. Dabei zahlen die Zuschauer direkt in der App und dürfen dann am Konzert teilnehmen. Bei Instagram können Fans beim Anschauen von Livestreams für 0,99 $ sogenannte „Batches“ erwerben, deren Erlös an die Künstler weitergereicht wird. Die Streaming-Plattform Twitch (Amazon Music) bietet ein ähnliches Feature an.
Daneben gibt es auch Anbieter, die auf das Livestreaming für Bands spezialisiert sind, wie Reservix, Stagetasy oder StageIt. Diese Unternehmen wickeln das Live-Event und den Ticketverkauf als Dienstleister technisch ab.
Livestreaming: Neues Produkt in der Musikverwertung
Auch wenn in hoffentlich naher Zukunft wieder Live-Konzerte stattfinden, könnte es daher durchaus sein, dass Musik-Events im Internet ein dauerhaftes Feature der Kulturszene bleiben werden – zum Beispiel als zusätzliches Erlebnis zur eigentlichen Veranstaltung. Über das Streaming könnten dann viele weitere (zahlende) Zuschauer das Konzert verfolgen.
Für dieses Szenario steht die Nachricht, dass der Entertainment-Konzern Live Nation im Januar 2021 die Livestream-Plattform Veeps übernommen hat. Die von Joel und Benji Madden von der Band Good Charlotte gegründete Firma hat sich in den letzten Jahren als Veranstalter von Livestreams mit Ticketverkauf etabliert. So wurden im letzten Jahr über 1.000 Shows durchgeführt und mehr als 10 Millionen Dollar Einnahmen generiert.
Interaktion mit Musikszene und Fans
Nach fast einem Jahr Lockdown der Livemusik-Szene halte ich es deshalb für wichtig, dass sich Musiker und Startups mit der Frage auseinandersetzen, wie dem gesteigerten Wunsch
- nach virtueller Gemeinschaft zum Austausch von Musik,
- nach Diskussion von Informationen über Livestreaming bzw. Live-Konzerte im Netz und
- zur Vernetzung der Szene
am besten entsprochen werden kann. Möglichkeiten gibt es dafür einige. Schauen wir uns zunächst einmal an, wie Konzerte im letzten Jahr (2020) in den virtuellen Raum übertragen worden sind und dann überlegen wir, wie das Ganze in der Praxis aussehen könnte. Du wirst feststellen, dass es hierfür zwei grundlegend verschiedene Konzepte gibt:
- Die Kopie einer Konzert-DVD wird zum Download oder Stream angeboten. Zweifellos ist es sehr bequem, „on-demand“ auf Inhalte zugreifen zu können. Aber ist das dann „live“, wenn sich die Wiedergabe mit einem Tastendruck beliebig unterbrechen lässt?
- Formen der Digitalisierung werden dazu verwendet, um neue Ideen der Interaktion zwischen Künstlern und Hörern zu entwickeln. Dabei gewinnt in letzter Zeit der Livestream, zum Beispiel über Twitch, an besonderer Bedeutung. Denn genau wie bei einem echten Konzert muss man anwesend sein, um an dem zeitlich begrenzten Erlebnis teilnehmen zu können.
Ideen für Live-Konzerte im Internet
Wie könnte also ein Live-Konzert in Zukunft in den virtuellen Raum übertragen werden? Ich habe dazu die folgenden Ideen:
- Künstler spielen in einer Halle vor einer konvexen Videowand, auf der sich die Zuschauer via Webcam zuschalten können.
- Künstler beginnen virtuell zu touren, in dem jede Show nur für Fans aus einer bestimmten Stadt oder Region zum Stream bereitsteht.
- Zuschauer können über Buttons Applaus und Jubel auslösen.
- Zuschauer bekommen vor der Show die Möglichkeit, über die Setlist abzustimmen.
- Freunde können gemeinsam Tickets für einen Livestream kaufen und bekommen während der Show einen eigenen privaten Chatraum zur Verfügung gestellt.
Trotz dieser vielversprechenden Möglichkeiten sehe ich derzeit noch verschiedene Probleme, die gelöst werden müssen, damit Online-Konzerte nicht die Ausnahme bleiben. Als größte Herausforderung sehe ich dabei die Frage, wie Künstler mit ihrem Internet-Publikum möglichst latenzfrei und ohne Phasenprobleme interagieren können. Denn soweit ich weiß, gibt es bisher noch keine Technologie, die dazu in der Lage ist, weltweit tausende oder gar Millionen von Audio-/Videostreams zwischen allen Sendern und Empfängern zu synchronisieren.
Ich bin mir aber sicher, dass Investoren diese Konzepte in Zukunft aufgreifen werden, um Live-Konzerte im Internet als eigenständiges Erlebnis zu etablieren, das nicht den regulären Konzertbetrieb ersetzen wird, sondern diesen um eine weitere Facette bereichert.
Jetzt bin ich auf deine Meinung gespannt. Welche Erfahrung hast du mit Online-Konzerten gemacht? Glaubst du, dass Live-Konzerte im Internet für Musiker zu einer verlässlichen Einnahmequelle werden? Lasse es mich in den Kommentaren wissen. Ich freue mich von dir zu hören.