Mobiles Internet, News Feeds und Trending Topics – in den letzten Jahren ist es mir immer mehr bewusst geworden, wie viele Themen, Meinungen und Trends jeden Tag auf uns einströmen. Und das Tempo, mit dem sie sich ablösen, wird befeuert durch all die Online-Kanäle und Websites, die ständig neue Inhalte brauchen.
Übertragen auf die Welt von Musik, Kunst und Kultur bedeutet das mehr als als nur die Zunahme von Veröffentlichungen oder Festivals. (Die Corona-Pandemie hat diesen Trend zwar zumindest für den Bereich Live-Events für eine Weile gestoppt, doch die generelle Richtung bleibt.) Denn vor allem im Bereich der Musik haben neue Technologien in den vergangenen 20 Jahren die Hörgewohnheiten so stark verändert wie nie zuvor. Nicht nur die Produktion und der Vertrieb von Musik wurden durch den technischen Fortschritt einfacher und billiger. Auch der Wert von Musik scheint abgenommen zu haben, seit wir mit nur 10 Euro im Monat jederzeit und überall auf die fast unendliche Vielfalt von Musik-Streaming-Diensten zugreifen können.
Napster: Musik tauschen und entdecken
Den Grundstein für diese Entwicklung legte 1999 der damals 19-jährige College-Student Shawn Fanning, als er in Boston mit Napster die erste Peer-to-Peer-Tauschbörse für Musik an den Start brachte. Es war die erste Online-Musiktauschbörse – und sie hat den Zugriff auf und den Umgang mit Musik völlig verändert. Anders als man vielleicht annehmen könnte, stand hinter dem Programm nicht die Idee, das urheberrechtlich problematische File-Sharing zu ermöglichen. Denn das war über die Server an den Universitäten sowieso schon in vollem Gange.
Was das Programm so attraktiv gemacht hat, war die Möglichkeit nach Musik zu suchen und entsprechend zu verwalten, ohne dass die Nutzer tiefere Kenntnisse der Informatik benötigten. Erstmals stand damit ein Instrument bereit, mit dem man in einer riesigen Menge unterschiedlicher Musikdateien bekannte Musik finden und neue Musik entdecken konnte.
iTunes und der kurze Siegeszug der Musik-Downloads
Dieser Trend wurde kurze Zeit später vom US-amerikanischen Hard- und Softwareentwickler Apple erkannt: Zusammen mit dem Start des tragbaren MP3-Players iPod eröffnete Apple 2003 den iTunes-Store und ebnete damit den Weg für einen praktischen, massentauglichen Umgang mit Musik per Download.
Bezeichnenderweise stieg laut Jahresbericht des Bundesverbandes Musikindustrie die Zahl der verkauften CD-Rohlinge in Deutschland in diesen Jahren von 58 Millionen (1999) auf 303 Millionen (2003), die Anzahl von original bespielten Musik-CDs sank dagegen im gleichen Zeitraum von 210 Millionen auf 146 Millionen.
Streaming: Millionen Songs mobil
Mittlerweile sind Millionen von Songs gegen eine monatliche Gebühr von wenigen Euro über Streaming-Anbieter wie Apple Music, YouTube Music, Deezer oder Spotify zugänglich. Wenn wir jedoch nur 20 Jahre zurückblicken, dann hätte es sich zur Jahrtausendwende wohl kaum einer vorstellen können, jemals individuell auf so eine riesige Menge Musik zugreifen zu können.
Heute kommen in Deutschland zwei Drittel der Umsätze im Musikverkauf (CDs, Vinyl, DVDs, Downloads, Streaming) aus digitalen Quellen, so der Bundesverband Musikindustrie. Nur gut sechs Prozent davon waren 2019 Downloads – über die Hälfte der Online-Umsätze wurde mit Audio-Streaming erzielt.
Ich höre was, was du nicht hörst
Die veränderten Hörgewohnheiten bei Musik hängen meiner Meinung nach mit genau dieser Entwicklung sowie dem gesunkenen Preis bzw. dem gesunkenen Wert von Musik zusammen. Lass uns dazu einen Blick in meine Vergangenheit werfen: Als ich früher voller Vorfreude mehrere Monate auf das neue Album meines absoluten Lieblingskünstlers gespart habe, war es selbstverständlich, dass ich mir die CD anschließend intensiv (und zum Leidwesen meiner Eltern) zigmal hintereinander angehört habe. Musik war mir etwas wert, jede Veröffentlichung war etwas Besonderes. Deshalb wollte ich viel Zeit mit der wertvollen, neu erworbenen Musik verbringen. Heute kann ich dagegen für weniger Geld als eine Audio-CD kostet sofort und von überall auf Millionen verschiedener Songs zugreifen.
Dieser neue Umgang mit Musik hat zum einen zur Folge, dass es immer schwieriger wird, die Aufmerksamkeit auf einzelne Titel zu lenken und stellt zum anderen sowohl die Hörer als auch die Streaming-Anbieter vor die Frage, wie Musik in Zukunft am besten kategorisiert werden soll.
Sind Playlists die neuen Mixtapes?
Eine Antwort auf diese Frage sehe ich in den Wiedergabelisten bei Spotify. Die Musik wird hier eingeteilt und kategorisiert nach:
- Stimmungen, die sie bedient oder auslöst,
- Funktionen, die sie erfüllen kann und
- Anlässen, für die sie das entsprechende Ambiente bietet.
Mir scheint, dass der individuelle Musik-Mix der Hörer an Bedeutung gewinnt und zum zentralen Element des Musikkonsums geworden ist. Doch so neu ist das eigentlich gar nicht. Denn bereits in den 80er-Jahren waren Mixtapes auf Audio-Kassetten oder später (trotz der beibehaltenen Bezeichnung „Tapes“) auf selbst gebrannten CDs ein identitätsstiftender Bereich der Jugendkultur. Für mich sind diese individuellen CD-Sampler immer eine Art Visitenkarte gewesen, die meinen Musikgeschmack und meine Persönlichkeit der jeweiligen Zeit in vielen Facetten widerspiegelte.
Heute, im Zeitalter von Streaming, haben Wiedergabelisten die Funktion solcher Mixtapes übernommen. Dass dadurch einzelne Songs zwangsläufig an Wichtigkeit verlieren, ist klar. Musik ist dadurch meiner Meinung nach zu einer abrufbaren Ressource geworden, die jederzeit dem jeweiligen Geschmack und der persönlichen Stimmung angepasst werden kann. Egal ob zum Sport, zum Entspannen, für die Konzentration, für die Party oder als Hintergrundmusik im Café – heute stehen Künstler und Stile auf Wiedergabelisten in trauter Eintracht nebeneinander, die sich früher kategorisch ausgeschlossen hätten. Das finde ich jedoch gar nicht schlimm, da jeder von uns Musik im Kopf hat, die zu bestimmten Anlässen besonders gut passt und dabei etwaige Genregrenzen kaum eine Rolle spielen.
Metal, Punk oder Country: Musikgenres trotz Playlists
Wie wichtig sind angesichts dieser Entwicklung in Zukunft noch Musikgenres? Ich denke, einerseits werden Labels, Musikjournalisten und Promoter auch weiterhin Musik gern in Schubladen einsortieren, um den Hörern besser zu beschreiben, wie eine neue Band oder ein neues Album klingen könnten, andererseits werden die Musiker und Bands selbst in Zukunft nicht aufhören, sich auf bestimmte Stile und Konventionen zu berufen.
Künstler, die wie David Bowie in ihrer Karriere mehrere Stilwechsel vollziehen, wird es ebenso weiter geben, wie neue Musik, die Genregrenzen überwindet oder Alben, bei denen die Songs sich in ganz unterschiedlichen Genres einordnen lassen. Auch wenn dabei vielleicht kein neues „White Album“ entstehen wird…
Aber ich glaube, dass Musiker es vermeiden werden, in Zukunft in einer Art „Shuffle-Modus“ Songs zu schreiben, nur um dadurch in möglichst vielen Spotify-Wiedergabelisten aufzutauchen. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass früher gültige Ordnungskriterien, zu denen auch das Genre gehört, an Bedeutung verloren haben. Das zeigt sich zum Beispiel an den Line-ups von großen Musikfestivals wie dem Lollapalooza in Berlin: Hier bestimmen Rap und EDM das Programm und keiner der Besucher stört sich (glücklicherweise) daran. Ein weiteres Beispiel ist die Kooperation von Linkin Park mit Jay-Z auf dem 2004 veröffentlichten Album „Collision Course“ oder Blanco Brown mit seinem sehr erfolgreichen Song „The Git Up“.
Freizeitspaß statt Subkultur
Für mich steht lediglich fest, dass das Musikgenre als eine identitätsstiftende Subkultur wohl ausgedient hat. Einflussreiche Jugendbewegungen, wie es die Hippies und Mods der 1960er-Jahre, der Punk in den 1970er-Jahren oder der Grunge in den 1990er-Jahren waren, sind für jüngere Generationen kaum noch von Bedeutung. Hat damit auch die Musik an Relevanz verloren? Das glaube ich nicht. Denn nach wie vor geben laut Shell-Jugendstudie fast 60 % der Jugendlichen das Hören von Musik als eine ihrer häufigsten und liebsten Freizeitbeschäftigungen an.
Neugierig bleiben und neue Musik entdecken
Möglicherweise lösen sich Genregrenzen durch die permanente Verfügbarkeit von Musik durch die Streaming-Anbieter auf, da Jugendliche heute mit viel mehr unterschiedlichen Stilen in Berührung kommen als früher. Meiner Meinung nach gehen Heranwachsende daher heute sehr viel flexibler mit verschiedenen Musikgenres um als noch vor 10 oder 15 Jahren.
Denn das ist der Vorteil der modernen Mediennutzung: So wie man bei Wikipedia oft bei der Suche nach einem Begriff viele weitere interessante Themen entdeckt, so hört man durch die Autoplay-Funktion bei YouTube oder durch Spotify-Playlists viele Musiker und Bands, auf die man anders gar nicht gestoßen wäre. Auch die Musikzeitschriften, Blogs oder Radiosender können schließlich nicht den gesamten Musikmarkt hörbar machen. Ich bin mir sicher, dass dieser Umgang mit Musik in Zukunft weitreichende Folgen haben wird – für Künstler wie für Konsumenten.
Jetzt bin ich auf deine Meinung gespannt! Denkst du, dass Genres in der Musik wichtig bleiben? Oder dass Wiedergabelisten bei Spotify die Nutzer mehr als früher auf neue Musik oder andere Genres stoßen lässt? Lass es mich in den Kommentaren wissen.